7
Die Nachricht von Solankas und Eleanors Trennung hatte Schockwellen in ihrem Bekanntenkreis ausgelöst. Jede Ehe, die zerbricht, stellt jene in Frage, die weiterhin halten. Malik Solanka war sich bewußt, daß er überall in der Stadt eine Kettenreaktion von ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen am Frühstückstisch und in den Schlafzimmern und wohl auch in anderen Städten in Gang gesetzt hatte. Läuft es bei uns noch immer gut? Okay, wie gut? Gibt es Dinge, über die du nicht mit mir sprichst? Werde ich eines Tages aufwachen, und du sagst etwas, an dem ich erkenne, daß ich das Bett mit einem Fremden geteilt habe? Wie wird das Morgen das Gestern umschreiben, wie wird die nächste Woche die letzten fünf, zehn, fünfzehn Jahre ungeschehen machen? Langweilst du dich? Ist das meine Schuld? Bist du schwächer, als ich gedacht hatte? Ist er es? Ist sie es? Ist es der Sex? Sind es die Kinder? Möchtest du’s kitten? Gibt es was zu kitten? Liebst du mich? Liebst du mich noch? Liebe ich dich noch, o mein Gott, o Himmel?
Diese Qualen, für die ihn seine Freunde unweigerlich bis zu einem gewissen Grade verantwortlich machten, kehrten wie Echos zu ihm zurück. Trotz seines ausdrücklichen Verbots gab Eleanor seine Telefonnummer in Manhattan an jeden weiter, der sie haben wollte. Männer schienen mehr als Frauen dazu zu neigen, ihn anzurufen, um ihm Vorwürfe zu machen. Morgen Franz, der Post-Hippie-Buddhist und Verleger, dessen Telefon Eleanor vor so vielen Jahren betreut hatte, war der erste. Morgen war Kalifornier und hatte vor dieser Tatsache in Bloomsbury Zuflucht gesucht, doch niemals seine träge Haight-Ashbury-Redeweise abgelegt. »Ich bin gar nicht glücklich darüber, Mann«, hatte er Malik per Telefon gestanden, und seine Vokale waren noch langgezogener als sonst, um seinen Kummer zu unterstreichen. »Und außerdem kenne ich keinen, der das wäre. Ich weiß nicht, warum du das getan hast, Mann, aber weil du ja weder dumm noch scheiße bist, ist mir klar, daß du deine Gründe hast, ganz sicher, weißt du? Und das werden gute Gründe sein, Mann, ganz ohne Zweifel, ich meine, was soll ich dir sagen, ich liebe dich, weißt du? Ich liebe euch beide, doch im Moment muß ich gestehen, daß ich ’ne ziemliche Wut auf dich hab.« Solanka konnte sich das gerötete Gesicht seines Freundes mit dem kurz gestutzten Bart, den kleinen, tiefliegenden Augen vorstellen, mit denen er, um seine Worte zu unterstreichen, heftig zwinkerte. Franz war bekannt dafür, daß er zurückhaltend war - »so cool wie das Leichenschauhaus«, lautete seine Maxime -, deswegen wirkte diese Klimax wie ein Schlag. Solanka dagegen blieb ungerührt und ließ sich herbei, die eigenen Gefühle ehrlich und unwiderruflich darzulegen.
»Vor sechs, sieben, acht Jahren«, sagte er, »rief Lin Eleanor oft unter Tränen an, weil du dich weigertest, mit ihr ein Kind zu machen, und weißt du was? Du hattest deine Gründe, du warst zutiefst enttäuscht von der menschlichen Rasse, mit der du tagtäglich zu tun hattest, und hast im Hinblick auf Kinder wie auch auf Philadelphia die Fields-Position eingenommen. Und, Morgen, ich habe mich damals selbst sehr über dich geärgert. Ich habe zugesehen, wie Lin sich statt um Babies um Katzen gekümmert hat, und das hat mir nicht gefallen, und rate mal? Ich habe dich nie angerufen, um dich zu beschimpfen oder zu fragen, was die relevante Buddhistenlehre über dieses Thema sagt, weil ich entschieden habe, daß es mich, verdammt noch mal, nichts angeht, was zwischen dir und deiner Frau passiert. Daß es deine Privatangelegenheit ist, solange du sie nicht schlägst oder solange es nur ihr Mutwillen ist, den du brichst, und nicht ihr Körper. Also tu mir den Gefallen und verpiß dich. Das hier ist nicht deine Story. Sondern meine.« Und so ging sie dahin, die alte Freundschaft, acht, oder waren es neun Weihnachtsfeiertage jeweils im Haus des anderen gefeiert, die Trivial-Pursuit-Spiele, die Scharaden, die Liebe. Lin Franz hatte ihn am Morgen darauf angerufen, um ihm zu sagen, daß das, was er gesagt hatte, unverzeihlich sei. »Bitte, vergiß nicht«, setzte sie in ihrem flüsterleisen, überformellen vietnamesisch-amerikanischen Englisch hinzu, »daß die Tatsache, daß du Eleanor verlassen hast, nur dazu beigetragen hat, daß Morgen und ich uns jetzt noch näher stehen. Und Eleanor ist eine starke Frau, sie wird ihr Leben in den Griff kriegen, sobald sie aufgehört hat zu trauern. Wir werden ohne dich weitermachen, Malik, und du wirst um einiges ärmer sein, nachdem du uns aus deinem Leben ausgeschlossen hast. Du tust mir leid.«
Ein Messer, über die schlafenden Gestalten der Ehefrau und des Kindes gehalten, darf niemandem gegenüber erwähnt, geschweige denn erklärt werden. Ein solches Messer repräsentiert ein weit schlimmeres Verbrechen als das Vertauschen einer langhaarigen Katze mit einem wimmernden Baby. Und Solanka hatte keine Antwort auf das Wie und Warum dieses entsetzlichen, rätselhaften Geschehens. Ist dies ein Dolch, den ich vor Augen habe, den Griff gen meine Hand gestreckt? Er war ganz einfach dagewesen, wie der schuldige Macbeth, und auch die Waffe war ganz einfach da, konnte später nicht weggewünscht oder aus dem Bild entfernt werden. Daß er das Messer nicht in die schlafenden Herzen gestoßen hatte, machte ihn nicht schuldlos. Allein das Messer so zu halten und so dazustehen war mehr als genug. Schuldig, schuldig! Selbst als er diese harten, die Freundschaft beendenden Worte zu seinem alten Freund sagte, war Malik Solanka sich ihrer Heuchelei klar bewußt gewesen, daher akzeptierte er Lins darauffolgende Zurechtweisung widerspruchslos. Als er mit dem Daumen an der Sabatier-Schneide entlangfuhr, um im Dunkeln ihre Schärfe zu prüfen, hatte er sich jedes Recht auf Protest verwehrt. Das Messer war jetzt seine Story, und er war nach Amerika gekommen, um sie zu schreiben.
Nein! Sie in seiner Verzweiflung ungeschrieben zu machen. Nicht Sein, sondern Nichtsein. Er war ins Land der Selbsterfindung geflohen, die Heimat von Mark Skywalker, dem Jedi-Texter mit den roten Hosenträgern, das Land, dessen paradigmatische moderne Fiktion die Story eines Mannes war, der sich selbst neu erschuf - seine Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Hemden, sogar seinen Namen - aus Liebe; und hier, an diesem Ort, zu dessen Erzählungen er fast keine Verbindung hatte, wollte er sich an die erste Phase einer solchen Restrukturierung wagen, nämlich - er wandte dieselbe Art mechanischer Imagerie jetzt auch auf sich selbst an, die er so rücksichtslos gegen die toten Frauen verwendet hatte - das komplette Löschen, die master delection des alten Programms. Irgendwo in der existierenden Software gab es ein Virus, einen potentiell tödlichen Fehler. Da half nichts weiter als das totale Entegotisieren des Ego. Wenn er den ganzen Apparat säubern konnte, dann würde auch das Virus im Müll landen. Und dann konnte er vielleicht damit beginnen, einen neuen Menschen zu konstruieren. Ihm war klar, daß dies ein phantastisches, unrealistisches Vorhaben war, wenn es denn ernst, wortwörtlich gemeint war, statt nur so dahingesagt; dennoch, er meinte es wortwörtlich, ganz gleich, wie verrückt es klingen mochte. Denn was war die Alternative? Geständnis, Angst, Trennung, Polizisten, Hirnbohrer, Broadmoor, Schande, Scheidung, Gefängnis? Die Schritte in dieses Inferno hinab schienen unausweichlich zu sein. Und das schlimmste Inferno würde er zurücklassen, in Gedanken würde sein heranwachsender Sohn für immer die heiß brennende Klinge vor sich sehen.
In diesem Moment hatte er sich an einen fast religiösen Glauben an die Macht der Flucht geklammert. Die Flucht würde andere vor ihm retten, und ihn vor sich selbst. Er würde dorthin gehen, wo niemand ihn kannte, und sich in diesem Unwissen reinwaschen. Eine Erinnerung aus dem verbotenen Bombay verlangte energisch seine Aufmerksamkeit: die Erinnerung an den Tag im Jahre 1955, als Mr. Venkat - der Großbankier, dessen Sohn Chandra der beste Freund des zehnjährigen Malik war - an seinem sechzigsten Geburtstag zum sanyasi wurde und seine Familie für immer verließ: nur bekleidet mit einem Gandhi-Lendentuch, mit einem langen Holzstab in der einen und einer Bettelschale in der anderen Hand. Malik hatte Mr. Venkat sehr gemocht, der ihn stets ein wenig neckte, indem er ihn aufforderte, ganz schnell seinen endlos langen, vielsilbigen Zungenbrecher von südindischem Namen zu sprechen: BalasubramanyamVenkataraghavan. »Na los, Junge, schneller!« drängte er Malik, als seine Kinderzunge über die Silben stolperte. »Hättest du nicht auch gern einen so prachtvollen Namen wie ich?«
Malik Solanka lebte in einer Wohnung im ersten Stock eines Gebäudes namens Noor Ville im Methwold’s Estate an der Warden Road. Die Venkats lebten in der anderen Wohnung in diesem Stock und schienen eine glückliche Familie zu sein: ja sogar eine, die Malik an jedem Tag seines Lebens beneidete. Jetzt standen beide Wohnungstüren offen, und die Kinder drängten sich mit großen, ernsten Augen um schmerzlich betroffene Erwachsene, als Mr. Venkat sich endgültig von seinem alten Leben verabschiedete. Aus den Tiefen der Venkat-Wohnung kamen die Töne einer zerkratzten Achtundsiebziger: ein Lied der Ink Spots, Mr. Venkats Lieblingsgruppe. Der Anblick von Mrs. Venkat, die sich an der Schulter seiner Mutter die Augen ausweinte, traf den kleinen Malik Solanka schwer. Als der Bankier sich zum Gehen wandte, rief Malik ihm auf einmal nach: »Balasubramanyam Venkataraghavan!« Um es dann immer schneller und lauter zu sagen, bis er zugleich plapperte und schrie:
»Balasubramanyamvenkataraghavanbalasubramanyamvenkataraghavanbalasubramanyamvenkataraghavan
BALASUBRAMANYAMVENKATARAGHAVAN!«
Der Bankier hielt würdevoll inne. Er war ein kleiner, knochiger Mann, mit freundlichem Gesicht und hellen Augen. »Das hast du sehr gut gesagt, und das Tempo war auch sehr eindrucksvoll«, bemerkte er. »Und weil du es fünfmal fehlerfrei wiederholt hast, werde ich dir fünf Fragen beantworten, falls du sie mir stellen möchtest.«
Wohin gehen Sie? »Ich mache mich auf die Suche nach Wissen und, wenn möglich, nach Frieden.« Warum tragen Sie nicht Ihren Arbeitsanzug? »Weil ich meine Arbeit aufgegeben habe.« Warum weint Mrs. Venkat? »Diese Frage mußt du ihr stellen.« Wann werden Sie wiederkommen? »Dieser Schritt, Malik, ist endgültig.« Was wird aus Chandra? »Er wird es eines Tages verstehen.« Mögen Sie uns nicht mehr? »Das ist die sechste Frage. Eine zuviel. Sei jetzt brav. Und sei deinem Freund ein guter Freund.« Wie Malik sich erinnerte, versuchte seine Mutter ihm, nachdem Mr. Venkat den Hügel hinab davongewandert war, die Philosophie der sanyasi zu erklären, die Entscheidung eines Mannes, seinen ganzen Besitz und seine weltlichen Bindungen aufzugeben, sich vom Leben zu trennen, um der Gottheit näher zu sein, bevor es Zeit zum Sterben wurde. Mr. Venkat hatte seine Angelegenheiten wohlgeordnet zurückgelassen. Das meiste von dem, was ihm erklärt wurde, verstand Malik nicht, aber er hatte größtes Verständnis für das, was Chandra meinte, als er später am selben Tag die alten Ink-Spot-Platten seines Vaters zerbrach und schrie: »Ich hasse das Wissen! Und den Frieden hasse ich auch. Ich hasse den Frieden wirklich sehr!«
Wenn ein Mann ohne Glauben die Wahl eines Gläubigen nachahmte, war das Ergebnis höchstwahrscheinlich vulgär und dumm. Professor Malik Solanka legte kein Lendentuch an und nahm keine Bettelschale. Er überließ sich nicht dem Zufall der Straße und der Wohltätigkeit von Fremden, sondern flog in der Business Class zum JFK, stieg vorübergehend im Lowell ab, rief einen Immobilienmakler an und hatte sofort Glück: Er fand diese geräumige, möblierte Untermietwohnung auf der West Side. Statt nach Manaus, Alice Springs oder Wladiwostok zu gehen, war er in einer Stadt gelandet, in der er nicht gänzlich unbekannt und die ihm nicht gänzlich unbekannt war, deren Sprache er beherrschte, in der er sich zurechtfand und bis zu einem gewissen Grad die Bräuche der Eingeborenen verstand. Er hatte gehandelt, ohne nachzudenken, saß angeschnallt in seinem Flugzeugsitz, bevor er sich gestattete nachzudenken; dann hatte er einfach die alles andere als perfekte Wahl seiner Reflexe akzeptiert und war dem wenig aussichtsreichen Weg gefolgt, auf den ihn seine Füße trugen, ohne von ihm gelenkt zu sein. Ein sanyasi in New York, ein sanyasi mit Duplexwohnung und Kreditkarte war ein Widerspruch in sich. Nun gut. Er würde dieser Widerspruch sein und trotz seines oxymoronischen Wesens sein Ziel verfolgen. Auch er war auf der Suche nach einem Quietus, nach Frieden. Also mußte sein altes Ego irgendwie storniert, endgültig gelöscht werden. Es durfte nicht wie ein Gespenst aus dem Grab emporsteigen, um ihn irgendwann in der Zukunft wieder zu beanspruchen und in die Gruft der Vergangenheit hinabzuziehen. Und wenn er versagte, dann versagte er, aber man dachte nicht an das, was nach dem Versagen kam, solange man noch versuchte, erfolgreich zu sein. Schließlich hatte Jay Gatsby, dieses größte Großmaul aller Zeiten, letzten Endes versagt, doch vor dem Crash hatte er dieses brillante, vergängliche, vergoldete, exemplarische amerikanische Leben voll ausgelebt.
Er erwachte in seinem Bett - wieder einmal voll bekleidet, mit starkem Alkoholgeruch im Atem -, ohne zu wissen, wie oder wann er dorthin gekommen war. Mit dem Bewußtsein kam die Angst vor sich selbst. Wieder eine Nacht ohne Erinnerung. Wieder nichts als Schnee auf dem Videoband. Aber wie zuvor klebte kein Blut an seinen Händen oder Kleidern, trug er keine Waffe bei sich, nicht mal einen Betonbrocken. Er stemmte sich hoch, griff nach dem Zapper und fand das Ende der Lokalnachrichten im Fernsehen. Nichts über einen Betonkiller, einen Mann mit Panamahut oder eine zu Tode gebrachte Schönheit. Nirgends eine zerbrochene Puppe. Schwer und hastig atmend ließ er sich quer übers Bett zurückfallen. Dann stieß er seine Straßenschuhe von den Füßen und zog sich die Decke über den schmerzenden Kopf.
Er kannte dieses Angstgefühl. Vor langer Zeit in einem Studentenheim in Cambridge war er nicht imstande gewesen, aufzustehen und sich seinem neuen Studentendasein zu stellen. Jetzt wie damals drangen Panik und Dämonen von allen Seiten auf ihn ein. Er war anfällig für Dämonen. Er hörte ihre Fledermausflügel an seinen Ohren flattern, spürte, wie sich ihre Koboldfinger um seine Knöchel schlossen, um ihn hinabzuziehen in die Hölle, an die er nicht glaubte, die aber immer wieder auftauchte, in seinen Worten, in seinen Gefühlen, in dem Teil von ihm, den er nicht unter Kontrolle hatte. Dieser wachsende Teil von ihm, der blindlings wütete, ihm aus den schwachen Händen lief ... wo war Krysztof Waterford-Wajda, wenn er ihn brauchte? Komm schon, Dubdub, klopf an die Tür und reiß mich zurück, vom Rand dieses gähnenden Abgrunds. Aber Dubdub kehrte nicht vom Reich hinter der Himmelstür zurück, um anzuklopfen.
Dies ist es nicht, redete Solanka sich hektisch ein. Dies war nicht die Story, die ihn bis hierher geführt hatte! Nicht dieses Jekyll-and-Hyde-Melodram, diese Saga einer weit niedrigeren Klasse. In der Struktur seines Lebens gab es keine Disposition zum Abartigen, kein Labor wahnsinniger Wissenschaftler, keine blubbernden Retorten, keinen Trank dämonischer Metamorphose. Aber die Angst, diese furchtbare Angst wollte ihn nicht verlassen. Er zog die Decke fester über seinen Kopf. An seinen Kleidern konnte er die Straße riechen. Es gab keinen Beweis, der ihn mit irgendeinem Verbrechen in Verbindung gebracht hätte. Und er stand auch nicht unter dem Verdacht eines solchen. Wie viele Männer trugen in einem normalen Manhattan-Sommer Panamahüte? Hunderte, mindestens! Warum also quälte er sich so sehr? Weil, wenn das Messer möglich war, dieses ebenfalls möglich war. Und dann die Umstände: dreimal die fehlende Erinnerung an eine Nacht, drei tote Frauen. Das war die Verbindung, die sein Schweigen so kategorisch erforderte wie das Messer im Dunkeln, vor der er sich aber nicht verstecken konnte. Und dieser Strom von obszönen Flüchen, den er im Cafe Mozart von sich gegeben hatte, ohne es zu merken. Nicht genug, um von einem Gericht verurteilt zu werden, aber er war sein eigener Richter, und die Jury war nicht da.
Benommen wählte er eine Nummer und wartete die endlosen, von einer mechanisierten Stimme gesprochenen Präliminarien ab, bis er seine Nachrichten bekam. Sie haben - eine! - neue Nachricht. - Die folgende - eine! neue Nachricht - ist NICHT abgehört worden. - Erste Nachricht. Dann kam Eleanors Stimme, in die er sich vor langer Zeit verliebt hatte. »Malik, du sagst, daß du dich selbst vergessen willst. Ich sage, du hast dich bereits vergessen. Du sagst, du willst nicht von deinem Zorn beherrscht werden. Ich sage, dein Zorn hat dich nie stärker beherrscht als jetzt. Ich erinnere mich an dich, obwohl du mich vergessen hast. Ich erinnere mich an dich, bevor diese Puppe unser Leben zerstört hat: Du hast dich für alles interessiert. Das habe ich an dir geliebt. Ich erinnere mich an deine Fröhlichkeit, deinen gräßlichen Gesang, deine komischen Stimmen. Du hast mir beigebracht, Cricket zu mögen; jetzt will ich, daß Asmaan es ebenfalls mag. Ich erinnere mich daran, daß du von den Menschen stets verlangt hast, das Beste zu geben, zu dem sie fähig sind, aber auch ohne Illusionen das Schlimmste von sich preiszugeben. Ich erinnere mich an deine Liebe zum Leben, zu unserem Sohn, zu mir. Du hast uns verlassen, aber wir haben dich nicht verlassen. Komm nach Hause, Liebling. Bitte, komm nach Hause.« Ungeschminkte, tapfere, herzzerreißende Tatsachen. Aber hier gab es eine weitere Lücke. Wann hatte er Eleanor etwas von Zorn und Vergessen gesagt? Vielleicht war er betrunken nach Hause gekommen und hatte sich erklären wollen. Vielleicht hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen, auf die das hier ihre Antwort war. Und sie hatte, wie immer, mehr daraus gehört, als er ihr sagte. Hatte, kurz gesagt, seine Angst gehört.
Er zwang sich aufzustehen, zog sich aus und duschte. Als er in der Küche Kaffee machte, fiel ihm auf, daß die Wohnung leer war. Aber es war einer von Wislawas Tagen. Warum war sie nicht hier? Solanka wählte ihre Nummer. »Ja?« Es war ihre Stimme. »Wislawa?« fragte er. »Professor Solanka. Sollten Sie nicht heute arbeiten?« Lange Pause. »Professor?« fragte Wislawas Stimme, die klein und schüchtern klang. »Haben Sie das vergessen?« Er spürte, wie seine Körpertemperatur rapide sank. »Was? Was soll ich vergessen haben?« Jetzt wurde Wislawas Stimme weinerlich. »Sie haben mich gefeuert, Professor. Gefeuert, und weswegen? Wegen gar nichts. Natürlich erinnern Sie sich. Und Ihre Ausdrücke. Solche Ausdrücke hab ich von einem gebildeten Mann noch nie gehört. Nach dem ist Schluß für mich. Selbst jetzt, wo Sie mich anrufen und mich bitten wollen, kann ich nicht wiederkommen.« Hinter ihr sprach jemand, die Stimme einer anderen Frau, und Wislawa riß sich zusammen, um mit beträchtlicher Entschlossenheit hinzuzufügen: »Aber die Kosten für meine Arbeit sind in Ihrem Mietvertrag enthalten. Da Sie mich ungerechterweise gefeuert haben, werde ich sie weiterhin erhalten. Ich habe mit den Vermietern gesprochen, und die sind einverstanden. Ich glaube, sie werden mit Ihnen sprechen. Ich arbeite schon lange für Mrs. Jay, wissen Sie.« Ohne ein weiteres Wort legte Professor Solanka den Hörer auf.
Sie sind gefeuert. Der rotgewandete Kardinal kommt die goldene Treppe herabgeschritten, um die Abschiedsworte des Papstes zu überbringen. Der Fahrer, eine Frau, wartet in ihrem kleinen Wagen, und als sich der grausame Überbringer in ihr Fenster beugt, trägt er Solankas Gesicht.
Die Stadt wurde mit dem Pestizid Anvil besprüht. Mehrere Vögel, zumeist in den Sumpfgebieten auf Staten Island, waren am Westnilvirus gestorben, und der Bürgermeister wollte kein Risiko eingehen. Für alle galt höchste Moskito-Alarmstufe. Nach der Abenddämmerung im Haus bleiben! Lange Ärmel tragen! Während des Sprühens sämtliche Fenster schließen und alle Klimaanlagen abschalten! Ein so interventionistischer Radikalismus, obwohl kein einziger Mensch sich seit dem Beginn des neuen Jahrtausends die Krankheit zugezogen hatte. (Später wurden ein paar Fälle gemeldet; aber keine Toten.) Die Europäer hatten schon immer über die Furchtsamkeit der Amerikaner angesichts des Unbekannten, ihre Überkompensation, gelacht. »In Paris hat ein Wagen Fehlzündungen«, hatte Eleanor Solanka - sogar Eleanor, die so wenig lästerte wie kaum ein anderer Mensch - gerne gesagt, »und am Tag darauf stornieren eine Million Amerikaner ihren Urlaub.« Solanka hatte die Warnung vor dem Sprühen vergessen und war stundenlang durch das unsichtbare, herabregnende Gift spazierengegangen. Einen Moment erwog er, dem Pestizid die Schuld an seinem Gedächtnisverlust zu geben. Asthmatiker bekamen Krämpfe, Hummer, so jammerten die Umweltschützer, gingen zu Tausenden ein; warum nicht auch er? Aber sein angeborenes Gerechtigkeitsgefühl verhinderte, daß er diesen Weg einschlug. Die Quelle seiner Probleme war vermutlich eher existentialistischer als chemischer Art.
Wenn du’s gehört hast, meine gute Wislawa, dann muß es wohl stimmen. Aber wie du siehst, habe ich nicht gemerkt... Bestimmte Bereiche seines Verhaltens waren seiner Kontrolle entschlüpft. Wenn er professionelle Hilfe suchte, würde ganz zweifellos in irgendeiner Form ein Zusammenbruch diagnostiziert. (Falls er Bronislawa Rhinehart wäre, würde er mit dieser Diagnose fröhlich nach Hause gehen und dann jemanden suchen, den er verklagen konnte.) Auf einmal erkannte er erschrocken, daß er genau so einen Zusammenbruch die ganze Zeit provoziert hatte. All diese Rhapsodien über den Wunsch, ungeschaffen zu werden! Und nun, da gewisse chronologische Segmente seines Ego aufgehört hatten, mit anderen zu kommunizieren - nun, da er sich buchstäblich in der Zeit desintegriert hatte -, warum war er jetzt so schockiert? Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, Malik. Denk an W. W. Jacobs. Die Story von der Affenpfote.
Er war nach New York gekommen, wie der Landverwalter zum Schloß kam: seiner selbst unsicher, mittellos und mit unrealistischen Hoffnungen. Er hatte eine Unterkunft gefunden, eine luxuriösere als der arme Verwalter, und seitdem war er durch die Straßen gelaufen, hatte einen Zugang zu dieser Welt gesucht und sich eingeredet, daß die große Weltstadt ihn, ein Stadtkind, heilen könne, wenn er nur das Tor zu ihrem magischen, unsichtbaren, hybriden Herzen fände. Dieses mystische Vorhaben hatte die festen Größen um ihn herum eindeutig verändert. Nach den Gesetzen der psychologischen Wahrscheinlichkeit und den tiefen, inneren Zusammenhängen des Stadtlebens schienen die Dinge logisch abzulaufen, in Wirklichkeit jedoch war alles ein Mysterium. Aber vielleicht war er nicht der einzige, dessen Identität an den Rändern auszufransen begann. Hinter der Fassade dieses Goldenen Zeitalters, dieser Zeit der Fülle, vertieften und verbreiteten sich die Widersprüche und die Verarmung des westlichen Individuums, oder sagen wir, des menschlichen Ego in Amerika. Vielleicht wurde diese weiter fortschreitende Desintegration auch in dieser Stadt der grellen, juwelenbesetzten Kleider und der geheimgehaltenen Asche, in dieser Zeit des öffentlichen Hedonismus und der privaten Angst sichtbar gemacht.
Eine Richtungsänderung war erforderlich. Die Story, die man beendete, war vielleicht niemals jene, die man begann. Jawohl! Er würde sein Leben wieder unter Kontrolle bringen und seine auseinanderbrechenden Egos verbinden. Diese Veränderungen in ihm selbst, die er erstrebte, würde er selbst einleiten und durchführen. Schluß mit diesem miasmischen Sichtreibenlassen. Wie hatte er sich jemals einreden können, daß diese geldvernarrte Stadt ihn ganz allein retten könne, dieses Gotham, in dem Clowns und Pinguine wild wurden, ohne daß Batman (oder gar Robin) ihre Pläne durchkreuzte, dieses Metropolis aus Kryptonit, in das kein Superman den Fuß zu setzen wagte, in dem Wohlstand fälschlich als Reichtum angesehen wurde und die Freude des Besitzens als Glück, in dem die Menschen ein so glatt poliertes Leben führten, daß die großen, schmerzlichen Wahrheiten der ungehobelten Existenz weggeschmirgelt und poliert wurden, und in dem menschliche Seelen so lange schon allein wanderten, daß sie sich kaum noch daran erinnerten, wie man sich berührte; diese Stadt, deren berühmte Elektrizität die elektrischen Zäune unter Strom setzte, die zwischen den Menschen und auch zwischen Männern und Frauen errichtet wurden. Rom war nicht gefallen, weil seine Armeen schwach wurden, sondern weil die Römer vergaßen, was es hieß, ein Römer zu sein. Könnte dieses neue Rom tatsächlich provinzieller sein als seine Provinzen; könnten diese neuen Römer vergessen haben, was und wie man wertschätzte, oder hatten sie es niemals gewußt? Waren alle Imperien so unwürdig, oder war dieses eine ein besonders krasser Fall? War niemand in diesem ganzen geschäftigen Unternehmen, in diesem materiellen Überfluß mehr an der tiefen Steinbruch-Arbeit des Geistes und des Herzens beteiligt? O Dream-America, sollte alles Streben der Zivilisation in Fettsucht und Trivialität enden, in Roy Rogers und Planet Hollywood, in USA Today und E!; oder in der Million-Dollar-Game-Show-Gier oder dem Katastrophen-Voyeurismus; oder im endlosen Beichtstuhl von Ricki, Oprah und Jerry, deren Gäste einander nach der Show umbrachten; oder in zum Schreien dämlichen Komödien, die in jüngster Zeit massenhaft im Kino gezeigt wurden, erdacht für junge Menschen, die im Dunkeln saßen und ihre Ignoranz gegen die Leinwand brüllten; oder sogar an den unerschwinglichen Tischen von Jean-Georges Vongerichten und Alain Ducasse? Was ist mit der Suche nach den verborgenen Schlüsseln, welche die Türen der Begeisterung aufschließen? Wer hat die Stadt, die auf einem Berge liegt, zerstört und an ihre Stelle eine Reihe von elektrischen Stühlen gesetzt, diese Todesboten in der Demokratie, zu denen jeder, der Unschuldige wie der geistig Behinderte und der Schuldige, kommen kann, um Seite an Seite mit den anderen zu sterben? Wer hat das Paradies gepflastert und einen Parkplatz angelegt? Wer hat sich mit George W. Gushs Langeweile und Al Bores Gush, sprich Überschwenglichkeit, zufriedengegeben? Wer hat Charlton Heston aus dem Käfig gelassen und dann gefragt, warum Kinder erschossen werden? Was, Amerika, ist mit dem Gral? O ihr Yankee-Galahads, ihr Indiana-Lancelots, o ihr Parsifals der Viehhöfe, was ist mit der Tafelrunde? Er spürte, wie eine Flut in ihm losbrach, und hielt sie nicht zurück. Jawohl, es hatte ihn verführt, dieses Amerika; jawohl, sein Glanz erregte ihn, und seine unendliche Potenz ebenso, und er wurde durch diese Verführung kompromittiert. Das, was er darin bekämpfte, mußte er auch in sich selbst attackieren. Es bewirkte, daß er wollte, was es verhieß und endlos zurückhielt. Jedermann war heutzutage ein Amerikaner oder zumindest amerikanisiert: Inder, Iraner, Usbeken, Japaner, Liliputaner, alle. Amerika war das Spielfeld der Welt, ihr Regelbuch, Schiedsrichter und Ball. Selbst Anti-Amerikanismus war maskierter Amerikanismus, weil er einräumte, daß Amerika das einzige Spiel in der Stadt und die amerikanische Frage die einzig gegenwärtige war; und so durchwanderte Malik Solanka nun, den Hut in der Hand, seine hohen Hallen, ein Bettler an des Reichen Tische; aber das hieß nicht, daß er ihm nicht in die Augen sehen konnte. Arthur war gefallen, Excalibur verloren, und der finstere Mordred war König. Neben ihm auf dem Thron von Camelot saß die Königin, seine Schwester, die Hexe Morgan le Fay. Professor Malik Solanka war stolz darauf, ein praktischer Mensch zu sein. Geschickt mit den Händen, konnte er eine Nadel einfädeln, seine Kleidung selbst flicken, ein Frackhemd bügeln. Eine Zeitlang, als er begann, seine Philosophenpuppen zu machen, ging er in Cambridge bei einem Schneider in die Lehre und lernte Kleider zuschneiden, die seine halb lebensgroßen Puppen tragen sollten; außerdem die Blickfang-Straßenmode, die er für das Braingirl kreierte. Wislawa oder nicht, er verstand sich darauf, seine Wohnung selbst sauberzuhalten. Von nun an würde er die Prinzipien guter Haushaltsführung auch auf sein Innenleben anwenden.
Mit dem purpurroten Wäschesack der chinesischen Reinigung über der rechten Schulter machte er sich auf, die Seventieth Street entlang. Als er auf die Columbus Avenue einbog, hörte er zufällig folgendes Selbstgespräch. »Du erinnerst dich doch noch an meine Ex-Frau Erin. Tess’ Mom. Ja, die Schauspielerin; heutzutage macht sie hauptsächlich Werbung fürs Fernsehen. Nun rate mal, was? Wir treffen uns wieder. Ziemlich verrückt, eh? Nach zwei Jahren, in denen ich sie für meine Feindin gehalten habe, und fünf weiteren in einem besseren, aber immer noch verzwickten Verhältnis! Ich habe sie eingeladen, irgendwann mal mit Tess rüberzukommen. Ehrlich gesagt, Tess hat gern ihre Mom dabei. Und dann, eines Nachts. Richtig, es war einer von diesen One-Night-Stands. Irgendwann bin ich rübergegangen und hab mich neben sie aufs Sofa gesetzt, statt in meinem gewohnten Sessel auf der anderen Zimmerseite zu bleiben. Weißt du, meine Sehnsucht nach ihr war nie ganz verschwunden, sie lag nur unter einem Haufen anderer Dinge begraben, einem dicken Haufen Zorn, um ehrlich zu sein, und nun kam das alles aus mir raus, rumsbums! Ein ganzes Meer. Ehrlich gesagt, in diesen sieben Jahren hatte sich eine ganze Menge angestaut, an Sehnsucht, meine ich, und der Zorn machte alles vielleicht sogar noch intensiver, deswegen war es so erstaunlich viel gigantischer als früher. Aber die Sache ist die. Ich gehe also zum Sofa rüber, und was passiert, passiert eben, und nachher sagt sie: Weißt du, als du zu mir rüberkamst, wußte ich nicht, ob du mich schlagen oder küssen wolltest. Ich glaube, das wußte ich selber nicht, bis ich auf dem Sofa saß. Ehrlich gesagt.«
Das alles lauthals in die Luft gesprochen von einem schlaksigen, kraushaarigen Art-Garfunkeligen Mann in den Vierzigern, der einen gescheckten Hund spazierenführte. Es dauerte einen Moment, bis Solanka durch den Schopf rötlicher Haare die Handy-Kopfhörer sah. Heutzutage wirken wir alle zuweilen wie Eigenbrötler oder Verrückte, dachte Solanka, die ihre Geheimnisse beim Spazierengehen dem Wind anvertrauen. Hier sah er ein auffallendes Beispiel desintegrierter, zeitgenössischer Realität, das ihn interessierte. Der hundeführende Art, der einen Augenblick nur im Telefon-Kontinuum existierte - im Sound of Silence weilte -, war sich keine Sekunde bewußt, daß er im alternativen oder Seventieth-Street-Kontinuum völlig Fremden seine intimsten Dinge anvertraute. Das jedoch liebte Professor Solanka an New York, dieses Gefühl, von den Geschichten anderer Menschen ausgeschlossen zu sein, wie ein Phantom durch eine Stadt zu streifen, sich mitten in einer Story zu befinden, die ihn als handelnde Person nicht benötigte. Und die Ambivalenz des Mannes gegenüber seiner Frau, dachte Solanka: statt Frau lies Amerika. Und vielleicht bin ich immer noch auf dem Weg zum Sofa hinüber.
Die Zeitungen des Tages brachten unerwarteten Trost. Er mußte den Fernseher zu spät eingeschaltet haben, um die neuesten Untersuchungsergebnisse zu den Sky-Ren-Bindy-Morden noch mitzubekommen. Voll Erleichterung las er, daß ein Team von Kriminalbeamten - drei Inspektionen arbeiteten zusammen an diesen Fällen - die drei Beaux zur Vernehmung abgeholt hatte. Sie waren später wieder nach Hause geschickt und vorerst waren keine Anklagen erhoben worden, doch die Detectives meinten es sehr ernst, und die jungen Männer waren gewarnt worden, nicht Hals über Kopf Kurs auf Riviera-Jachten oder Südostasien-Strände zu nehmen. Ungenannte, Polizeikreisen nahestehende Quellen behaupteten, die Mr. Panamahut-Theorie sei nicht mehr sehr glaubhaft, was eindeutig darauf schließen ließ, daß die beargwöhnten Boyfriends in dem Verdacht standen, den geheimnisvollen Verfolger gemeinsam ausgeheckt zu haben. Stash, Horse und Club wirkten auf den Fotos wie drei sehr verängstigte junge Männer. In der Presse wurde der unaufgeklärte Dreifachmord sofort mit dem Fall Nicole Brown Simpson und dem Tod des kleinen Jon Benet Ramsey in Zusammenhang gebracht. In solchen Fällen, schloß ein Leitartikel, sucht man am besten in der unmittelbaren Umgebung.
»Kann ich mal mit Ihnen sprechen?« Als er, schwindlig vor Erleichterung, zu seiner Wohnung zurückkehrte, wartete Mila vor der Haustür auf ihn - sans entourage, aber mit einer halblebensgroßen Braingirl-Puppe im Arm. Die Veränderung in ihrem Verhalten war verblüffend. Verschwunden war die großspurige Pose der Straßen-Göttin, das Königin-der-Welt-Gehabe. Dies war eine schüchterne, linkische junge Frau mit leuchtenden grünen Augen. »Was Sie da gesagt haben, im Kino. Das sind Sie, das müssen Sie sein, nicht wahr? Sie sind der Professor Solanka. Braingirl, geschaffen von Prof. Malik Solanka. Sie haben sie ins Leben gerufen, Sie haben sie lebendig gemacht. O Mann! Sogar sämtliche Videobänder von den Abenteuern hab ich gesammelt, und zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag ist mein Daddy zu einem Händler gegangen und hat mir den ersten Script-Entwurf der Galileo-Episode gekauft, wissen Sie, bevor sie all diese Blasphemien rausgeschnitten haben, das ist mein allergrößter Schatz. Okay, bitte sagen Sie, daß ich recht habe, denn sonst mache ich mich so lächerlich, daß mein ganzes Coolsein auf immer dahin ist. Na ja, es ist schon ziemlich weit dahin, Sie haben ja keine Ahnung, was Eddie und die Boys davon halten, daß ich hier mit ’ner Puppe ankomme, Mann o Mann.« Solankas angeborene Abwehr, schon erschüttert durch sein erleichtertes Herz, wurde von dieser extremen Leidenschaft endgültig überwunden. »Ja«, räumte er ein, »ja, das bin ich.« Sofort kreischte sie aus vollem Hals und sprang ungefähr zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt hoch in die Luft. »Wahnsinn!« rief sie dann, unfähig, mit dem Auf-und-ab-Hüpfen aufzuhören. »O mein Gottl Wirklich, ich muß sagen, Professor: Sie sind absolut geill Und Ihr BG, diese kleine Lady hier, von der bin ich seit fast zehn Jahren schon richtig besessen. Ich beobachte jede Bewegung, die sie macht. Und wie Sie ganz richtig bemerkten, ist sie nur die Basis und die Inspiration für meinen jetzigen persönlichen Stil.« Sie streckte die Hand aus. »Mila. Mila Milo. Lachen Sie nicht. Ursprünglich hieß es Milosevic, aber mein Dad wollte etwas, das jeder aussprechen kann. Ich meine, wir sind schließlich in Amerika, stimmt’s? Wir machen’s uns leicht. Mila Milo.« Während sie die Vokale überdehnte, verzog sie das Gesicht; dann grinste sie. »Ich weiß nicht, klingt irgendwo nach Landwirtschaftsdünger. Oder vielleicht Getreidekörnern.«
Während sie sprach, spürte er, wie der alte Zorn in ihm aufstieg, der gewaltige, ungeminderte Braingirl-Zorn, der all diese Jahre lang unausgesprochen, unaussprechbar geblieben war. Es war dieser Zorn, der unmittelbar zu der Episode mit dem Messer geführt hatte ... Es kostete ihn große Mühe, doch er bezwang ihn. Dies war der erste Tag seiner neuen Phase. Heute sollte es keinen roten Nebel geben, keine Tirade von Obszönitäten, keinen Wut-induzierten Erinnerungs-Blackout. Heute würde er sich dem Dämon stellen und ihn auf die Matte niederringen. Atme, befahl er sich. Atme.
Mila zeigte sich besorgt. »Professor? Alles in Ordnung?« Er nickte hastig, ja, ja. Und sagte kurz: »Bitte, kommen Sie herein. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.«